Kloster Gethsemani

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Der Adler

Eine Geschichte erzählt, wie ein Mann einen jungen Adler fing und ihn zu seinen Hühnern sperrte. Einige Jahre später erklärte er einem Besucher, der Adler sei nun wie ein Huhn geworden. Doch er erhielt zur Antwort: “Nein, er ist noch immer ein Adler, denn er hat das Herz eines Adlers. Und das wird ihn hoch hinauf fliegen lassen in die Lüfte.“ Der Besitzer des Adlers widersprach, und so kamen sie überein, eine Probe zu machen. Der andere Mann hob den Adler in die Höhe und sagte zu ihm: “Der du ein Adler bist, der du dem Himmel gehörst und nicht der Erde: Breite deine Schwingen aus und fliege!“ Doch der Adler sprang wieder auf den Boden, um mit den Hühnern zu fressen. Auch beim zweiten Versuch flog der Adler nicht in die Höhe, sondern sprang zu den Hühnern hinunter, die im Sand schliefen. Schließlich brachte der Mann den Adler hinaus in die Berge, früh am Morgen, als gerade die Sonne aufging. Er hob ihn hoch und ließ ihn direkt in die aufgehende Sonne schauen. Da breitete der Adler seine Flügel aus, und mit einem lauten Schrei flog er hoch empor und kehrte nicht mehr zurück.

Der Adler

Diese Geschichte gibt es in verschiedenen Fassungen, aber die Kernaussage ist dieselbe: Da ist einer, der nicht weiß, wer er in Wirklichkeit ist und deshalb ein sehr eingeschränktes Leben führt. Er ist nur deshalb zufrieden damit, weil er nicht weiß, dass es noch eine andere Welt gibt und dass er selbst zu dieser anderen Welt gehört.

Diese Geschichte ist eine Parabel; sie handelt also eigentlich nicht von Adlern und Hühnern, sondern will etwas über den Menschen sagen. Sie will darauf aufmerksam machen, dass ein Mensch am Sinn seines Lebens vorbeileben kann, ohne es zu merken. Es ist, als schlafe so ein Mensch und müsse erst zum wirklichen Leben aufgeweckt werden.

Doch aus so einem tiefen Schlaf wacht der Mensch nicht leicht und nicht gern auf. Auch der Mann in der Parabel muß den Adler dreimal mahnen: „Der du ein Adler bist, der du dem Himmel gehörst und nicht der Erde: Breite deine Schwingen aus und fliege!“ Denn Bequemlichkeit und Gewohnheit halten den Adler zunächst einmal auf der Erde fest.

Es scheint tatsächlich naheliegender zu sein, sich nur um die Karriere, um Prestige und Sicherheit zu kümmern, aber all das endet mit dem Tod und führt nicht über ihn hinaus. Deshalb verharrt ein Mensch, dessen Denken und Sorgen nur um solche Dinge kreist, gewissermaßen im Schlaf. Doch so angenehm und wichtig der Schlaf ist – wer will schon sein Leben „verschlafen“?!

Dieser Gedanke findet sich auch in der Mönchsregel (Prolog 8) des heiligen Benedikt; er fordert geradezu drängend: „Stehen wir also endlich einmal auf! Die Schrift rüttelt uns wach und ruft: ‘Die Stunde ist da, vom Schlaf aufzustehen.’ (Römerbrief 13,11).“ Auch er ist also der Meinung, dass der Mensch in Gefahr ist, das wirkliche Leben zu „verschlafen“.

Und er verstärkt seine Mahnung noch (Prolog 9-10): „Öffnen wir unsere Augen dem göttlichen Licht, und hören wir mit aufgeschrecktem Ohr, wozu uns die Stimme Gottes täglich mahnt und aufruft: ‚Heute, wenn ihr seine Stimme hört, verhärtet eure Herzen nicht!‘ (Psalm 95,8)

Das abgestumpfte, „verhärtete Herz“, dem die Sensibilität für Gott fehlt, ist die Folge von Oberflächlichkeit und Trägheit, wenn ein Mensch nur das sagt und tut, was „man“ sagt und tut. Der heilige Benedikt will, dass wir uns durch das Wort der Heiligen Schrift von Gott aufwecken lassen, der jedem Menschen den Weg zum wahren Leben zeigt (Prolog 20).

Wie aber können wir so hellhörig werden, dass wir Gottes Stimme in der Bibel hören? Wie können wir so aufmerksam werden, dass wir in den Menschen und Ereignissen, die uns jeden Tag begegnen, Gott wahrnehmen?

Das ist heute gar nicht so einfach. Alles ist ausgeleuchtet; jeder versucht, sich selbst und das, was er verkauft, ins beste Licht zu setzen. Künstliches Licht macht sogar noch die Nacht zum Tag. Die Augen sind überflutet von Reizen, übersättigt mit Licht und Farbe - wie soll der Mensch da noch das „göttliche Licht“ sehen?!

Ähnliches gilt für das Hören: Es wird soviel geredet. Die Stimmen fallen einander ins Wort; ständig werden neue Ideen oder Produkte angepriesen. Der Lärm ist so verwirrend, dass es schwerfällt, sich ein eigenes Urteil zu bilden. Die Ohren sind taub von den Stimmen, die uns umschmeicheln – wie soll der Mensch da noch Gottes Stimme hören?!

Dunkelheit und Stille sind nötig: „Mitten im Gelärm das innere Schweigen bewahren. Offen, still, feuchter Humus im fruchtbaren Dunkel bleiben, wo Regen fällt und Saat wächst – stapfen auch noch so viele im trockenen Tageslicht über die Erde in wirbelndem Staub“ (Dag Hammarskjöld).

In Dunkelheit und Stille halten wir unsere „Nachtwache“. Um diese Zeit ist es draußen noch dunkel und still, und auch wir selbst beten schweigend im dunklen Oratorium, in dem nur einige Kerzen brennen. Wir beten gemeinsam, weil wir erfahren haben, wie die Anwesenheit der anderen das eigene Ausharren, das eigene Gebet stützt. Nichts verbindet uns als Gemeinschaft so tief wie dieses tägliche gemeinsame stille Vor-Gott-Sein!

Dabei ist unser Herz noch unberührt von den Eindrücken, die der Tag bringen wird. Stattdessen „bewegen“ wir Worte der Heiligen Schrift in unserem Herzen, wie es von Maria heisst (Lk 2,19). Letztlich besteht dieses kontemplative Gebet darin, „uns für den gegenwärtig zu halten, der in uns gegenwärtig ist“ (Jean Daniélou).

So üben wir uns in der Nacht ein in Aufmerksamkeit und Wachsamkeit, in die „Wachsamkeit eines Soldaten, der in der Nacht so still und aufmerksam, wie er nur kann, dasteht und lauscht, immer auf dem Sprung, richtig und blitzschnell auf alles zu reagieren, was auf ihn zukommt. In einer Hinsicht ist er untätig, weil er nur dasteht und nichts tut; andererseits ist er intensiv tätig, weil er hellwach und völlig gesammelt ist“(Metropolit Anthony).

In dieser Haltung können wir dann in rechter Weise auf das reagieren, was uns während des Tages begegnet und in den Menschen und Ereignissen Gott und seinen Willen erkennen. Jesus spricht oft davon, dass wir „wachsam“ sein sollen (Matthäusevangelium 24,42; 25,13; Markusevangelium 13,35): „Denn ihr wisst nicht, wann der Herr des Hauses kommt ...“ Der „Herr des Hauses“ – das ist Er selbst, der einmal wiederkommen wird, um das zu vollenden, was er begonnen hat: das Reich Gottes.

Aber rechnen wir noch damit, dass Er kommt? Freuen wir uns darauf? Bereits vor mehr als 1500 Jahren rief der heilige Augustinus aus: „ Aber was ist denn das für eine Liebe, unsere Liebe zu Christus, wenn wir uns davor fürchten, dass er kommt? Wir lieben ihn und haben Angst, dass er kommt? Aber lieben wir ihn denn dann wirklich? Oder lieben wir nicht vielleicht unsere Sünden mehr als Christus?“

Dabei geht es nicht nur um das Kommen des Herrn „am Ende der Zeit“ – für jeden von uns kann in jedem Augenblick der „letzte Tag“ anbrechen. Die später hingerichtete Sophie Scholl von der Widerstandsgruppe „Weiße Rose“ schrieb 1942 in ihr Tagebuch:

„Viele Menschen glauben von unserer Zeit, dass sie die letzte sei. Alle die schrecklichen Zeichen können es glauben machen. Aber ist dieser Glaube nicht von nebensächlicher Bedeutung? Denn muß nicht jeder Mensch, einerlei, in welcher Zeit er lebt, dauernd damit rechnen, im nächsten Augenblick von Gott zur Rechenschaft gezogen zu werden? Weiß ich denn, ob ich morgen früh noch lebe? Eine Bombe könnte uns heute nacht alle vernichten. Und dann wäre meine Schuld nicht kleiner, als wenn ich mit der Erde und den Sternen zusammen untergehen würde.“

Wie Augustinus, so legt auch Sophie Scholl mutig den Finger auf die „Wunde“: Der Gedanke an das Kommen des Herrn ist uns unangenehm, weil wir lieber bequem „weiterschlafen“ möchten, anstatt uns der Wahrheit über unser Leben zu stellen, dass uns nämlich soviel anderes wichtiger ist als Christus. Würde er in diesem Augenblick vor uns stehen und uns fragen: „Liebst du mich?“ (Johannesevangelium 21), dann wäre unsere Verlegenheit wohl noch größer als die des Petrus.

So wird die Stunde unserer „Nachtwache“ auch zur „Stunde der Wahrheit“, wenn wir uns durch das Wort Gottes von der Oberfläche unseres Lebens in die Tiefe, zum Wesentlichen und damit zur Wahrheit über uns selbst führen lassen. Denn in Dunkelheit und Stille steigen Gedanken und Gefühle auf, nicht nur positive, sondern auch negative: „unverdaute“ Kränkungen, Ärger, Schuldgefühle, Komplexe. Es hat keinen Sinn, dies alles einfach zu verdrängen, weil es Wichtiges über den Zustand unserer Seele aussagt. Wenn wir nicht den Mut aufbringen, uns dem in aller Ehrlichkeit zu stellen, sinkt es ins Unbewusste ab und beeinflusst von dort aus unser Denken und Handeln, ohne dass wir es merken.

Im Gegensatz dazu ist es heilsam, in aller Ruhe die Wahrheit über sich selbst zu akzeptieren: Ja, ich habe Aggressionen; ich fühle mich minderwertig, ich empfinde Neid und Eifersucht. Dann bekommt die schöne Fassade, die wir so gern vor den anderen aufbauen, plötzlich Risse. Das ist eine sehr unangenehme, aber wichtige Erfahrung, weil wir nur so in Berührung kommen mit unserem wahren Selbst und damit auch mit Gott. Denn die schöne Fassade trennt uns ebenso von den Mitmenschen wie von Gott, der nicht die schöne Fassade liebt, sondern uns selbst, die wir uns dahinter verstecken.

Wer sich auf diesen Prozess der Selbsterkenntnis einlässt, der wird schließlich eine wunderbare Entdeckung machen: „Gott hat das alles längst gewusst! Gott liebt etwas Unvollkommenes – nämlich mich!“ (Richard Rohr)

Diese Wahrheit gilt aber nicht nur für uns selbst, sondern für den Menschen überhaupt. Denn gerade im nächtlichen Gebet tragen wir alles vor Gott, was uns erschüttert: die Not und die Verzweiflung, aber auch die Grausamkeit und Gleichgültigkeit der Menschen. Und wer den Mut hat, in die eigene Tiefe hinabzusteigen, wird dort auf das Wurzelgeflecht treffen, das uns Menschen miteinander verbindet. An der Oberfläche sehen wir nur unsere Fehler und Schwächen; in der Tiefe erkennen wir ihre Ursache, die Verwirrung und Verblendung des menschlichen Lebens durch die Sünde, die Ablehnung Gottes. Und wir erkennen unsere eigene Hilflosigkeit, unsere Ohnmacht, Entscheidendes zu verändern. Die Wurzel unseres Lebens, aus der alles Unheil kommt, kann nur einer heilen: Gott.

Dass er das tatsächlich getan hat, daran erinnert uns jede Nachtwache: In der Nacht im Garten von Gethsemani ist Christus für uns alle „in die Bresche getreten“ (vgl. Ezechiel 13,5; 22,30). Er ist derjenige, der stehen bleibt, wo wir „umfallen“; derjenige, der „hinsteht“, der für uns einsteht, ganz gleich, was es ihn kostet.

Was es Jesus gekostet hat, können wir nur erahnen, wenn wir lesen, dass sein Schweiss wie zu „Tropfen von Blut wurde, die zur Erde fielen“ (Lukas- evangelium 22,44). Jesu Schmerz, seine Todesangst übersteigt alles, was Menschen je empfinden oder auch nur sich vorstellen können. Denn es geht nicht nur um Qual und Tod, wie auch Menschen sie erleiden. Jesus leidet als Mensch und als Sohn Gottes. In seiner Person treffen zwei eigentlich unvereinbare Gegensätze aufeinander: die Sünde des Menschen und die Heiligkeit Gottes.

Als Sohn Gottes ist Jesus ganz frei von der Sünde, doch als er Mensch wurde, hat er unser durch die Sünde belastetes Leben auf sich genommen, um es zu heilen. Gethsemani ist für Jesus die Stunde der Entscheidung, ob er diese Treue zu den Menschen bis zur äußersten Konsequenz durchhalten will, ob er Folter und Verspottung und einen grausamen Tod auf sich nehmen will. Mehr noch: ob er all das auf sich nehmen will trotz der scheinbaren Abwendung des Vaters.

Jesus wacht allein in Gethsemani. Vor seiner Gefangennahme hat er zu seinen Jüngern gesagt: „Steht auf und betet, damit ihr nicht in Versuchung geratet“ (Lukasevangelium 22,46). Und doch schlafen die Jünger ein. „Konntet ihr nicht einmal eine Stunde mit mir wachen?“ fragt Jesus betrübt (Mt 26,40). Blaise Pascal bemerkt dazu: „Gemeinschaft und Linderung sucht Jesus bei den Menschen. Das, scheint mir, ist einmalig in seinem ganzen Leben. Aber er findet sie nicht, denn seine Jünger schlafen.“ Während Jesus „betet und wacht, während er seine Angst durchleidet, schlafen die Jünger. Die Evangelien decken es schonungslos auf. Das Elend des Menschen bricht über Jesus herein, und der Mensch schläft. Der Mensch verschläft den Kampf um seine Erlösung. In Gethsemani wird die eigentliche Schlacht geschlagen, die am Kreuz vollzogen wird, und der Mensch schläft“ (Josef Sauerborn).

So enthüllt die Nacht von Gethsemani auch die Wahrheit über Gott und den Menschen: wie groß die Liebe sein muß, die Jesus das alles auf sich nehmen ließ – für uns – und wie leichtfertig diese Liebe zurückgewiesen wird!

Deshalb ist die Erlösung noch nicht vollendet, und immer noch leiden und sterben Menschen, und in ihnen leidet Jesus: „Bis ans Ende der Welt wird die Todesangst Jesu dauern: nicht schlafen darf man bis dahin“ ... (Blaise Pascal). So wollen wir wenigstens eine Stunde wachen, verbunden mit Jesus und den vielen Menschen, die auch heute noch leiden.

Und wir wollen immer wacher, aufmerksamer, empfindsamer werden für die Wahrheit unseres Lebens. Dem Adler in der Parabel geht beim Blick in die Sonne auf, was sein wahres Wesen ist. So erkennen auch wir im Blick auf Gott, wer wir sind: Gottes geliebte Söhne und Töchter, dazu berufen, ewig miteinander in seiner Liebe zu leben.

Vor unserem Kloster steht eine Figur des heiligen Bernhard von Clairvaux, der diesen Adler bei sich hat. Warum den Adler? Weil man dem Adler nachsagte, er habe so starke Augen, dass er in die Sonne schauen könne, ohne zu erblinden.

Einen „Adler, der in die Sonne schaut“; so nannte Hildegard von Bingen den heiligen Bernhard, der ganz für die Liebe Gottes lebte. Das ist auch unsere Berufung: „Das Licht der Herrlichkeit scheint mitten in der Nacht. Wer kann es sehn? – Ein Herz, das Augen hat und wacht.“ (Angelus Silesius)