Kloster Gethsemani

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Benedikt über Benedikt

Benedikt XVI., damals noch Kardinal Ratzinger, hielt am 3. Februar 1998 in Hamburg seinen berühmten Vortrag "Glaube zwischen Vernunft und Gefühl", den er beschloss mit Gedanken über den heiligen Benedikt, die gerade heute in der Corona-Krise überraschend aktuell sind.

Er sagte:
"Papst Gregor der Große, 604 gestorben, erzählt in seinen 'Dialogen' von den letzten Lebenswochen des heiligen Benedikt. Der Ordensgründer habe sich im oberen Stockwerk eines Turmes zum Schlafen gelegt, zu dem von unten her eine gerade Stiege hinaufführte. Er habe sich dann vor der Zeit des nächtlichen Gebetes erhoben, um Nachtwache zu halten. Er stand am Fenster und flehte zum allmächtigen Gott.

Während er mitten in die dunkle Nacht hinausschaute, sah er plötzlich ein Licht, das sich von oben her ergoss und alle Finsternis der Nacht vertrieb. Etwas ganz Wunderbares ereignete sich in dieser Schau, wie er später selbst erzählte: Die ganze Welt wurde ihm vor Augen geführt wie in einem einzigen Sonnenstrahl gesammelt.

Gegen diesen Bericht erhebt der Gesprächspartner Gregors Einspruch mit derselben Frage, wie sie sich auch dem heutigen Hörer aufdrängt: 'Was du gesagt hast, dass Benedikt die ganze Welt in einem einzigen Sonnenstrahl gesammelt vor Augen sehen durfte, das habe ich noch nie erlebt und kann es mir auch nicht vorstellen. Wie könnte denn jemals ein Mensch die Welt als Ganze schauen?' Der wesentliche Satz in der Antwort des Papstes lautet: 'Wenn er die ganze Welt als Einheit vor sich sah, so wurden nicht Himmel und Erde eng, sondern die Seele des Schauenden weit.'

In dieser Darstellung sind alle Details bedeutsam: Die Nacht, der Turm, die Stiege, das Obergemach, das Stehen, das Fenster. All das hat über die topographische und biographische Schilderung hinaus eine große symbolische Tiefe.

Dieser Mensch ist in einem langen und mühsamen Weg, der in einer Höhle bei Subiaco begann, auf den Berg und schließlich auf den Turm gestiegen. Sein Leben war ein inneres Aufsteigen, Stufe um Stufe auf der geraden Leiter. Er ist im Turm angelangt, und da noch einmal im Obergemach, das von der Apostelgeschichte an als Symbol der Sammlung nach oben, des Heraussteigens aus der Welt des Werkens, des Machens, gilt. Er steht am Fenster. Er hat den Ort des Ausblicks gesucht und gefunden, an dem die Mauer der Welt aufgeschlagen ist und der Blick ins Freie hinaus sich öffnet.

Er steht. Das Stehen ist in der Mönchstradition Sinnbild des Menschen, der sich aus seiner Verkrümmung aufgerichtet hat, nicht mehr in sich verklemmt nur noch zur Erde schauen kann, sondern die aufrechte Haltung und so den freien Blick nach oben wiedergewonnen hat.

So wird er zu einem Sehenden. Nicht die Welt wird eng, sondern seine Seele weit, da er nicht mehr vom einzelnen absorbiert ist, von den Bäumen, die den Wald nicht mehr erkennen lassen, sondern den Blick aufs Ganze gewonnen hat. Besser: Er kann das Ganze sehen, weil er aus der Höhe sieht, und die kann er finden, weil er innerlich weit geworden ist. Die alte Tradition vom Menschen als Mikrokosmos, der die ganze Welt umspannt, mag nachklingen.

Aber das Wesentlich ist eben dies:
Der Mensch muß aufsteigen lernen,
er muß weit werden,
er muß am Fenster stehen, er muß Ausschau halten,
und dann kann das Licht Gottes ihn anrühren.
Er kann Ihn erkennen
und von Ihm her den wahren Überblick gewinnen.
Die Fixierung auf die Erde darf nicht so ausschließlich werden,
dass wir des Aufstiegs, der aufrechten Haltung unfähig werden.

Die großen Menschen, die im geduldigen Aufsteigen und in den erlittenen Reinigungen ihres Lebens Sehende und darum Wegweiser der Jahrhunderte geworden sind, gehen uns auch heute an. Sie zeigen uns, wie auch in der Nacht Licht zu finden ist und wie wir den aus den Abgründen menschlicher Existenz aufsteigenden Drohungen begegnen und der Zukunft als Hoffende entgegengehen können."