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Geistliche Lesung - Lectio divina
Der heilige Benedikt sagt in seiner Regel, dass der Mönch ein "Gottsucher" sein soll. Ein Zisterziensermönch sucht Gott vor allem in der Heiligen Schrift, indem er durch ihren buchstäblichen Sinn hindurch den geistlichen Sinn zu erschließen sucht. Für unsere Väter war es wichtig, in den Worten der Heiligen Schrift einen tiefen Sinn für ihr spirituelles Leben zu erkennen. Im biblischen Sprachgebrauch bedeutet "erkennen" nicht in erster Linie ein intellektuelles Geschehen, sondern ein Vertraut-Werden mit dem Erkannten. Wachsen in der Erkenntnis des Bibelwortes ist in unserer Tradition dann auch ein Wachsen in der Beziehung zu Gott und damit Heil und Erlösung.
Der Psalmist lädt uns ein, das Antlitz des Herrn zu suchen (Psalm 105,4). Gott enthüllt uns sein Antlitz im Wort der Heiligen Schrift. Gott schenkt sich uns in seinem Wort. Wie könnten wir in der Beziehung zu Gott leben, wenn nicht er selbst sich uns mitteilen würde? So begegnet der Mönch durch die Lectio hindurch Gott und lebt von ihm und aus ihm. Wenn der Mönch aus dem Wort Gottes lebt, dann ist die logische Folge, dass er geistlich wächst, sich entfaltet und immer mehr verwirklicht.
Die Bibel spiegelt die ganze Bandbreite menschlichen Lebens: Freude, Dankbarkeit, Liebe zu Gott und zu den anderen, aber auch Schuldbewusstsein, Klage, Reue usw. Das Wirken des Heiligen Geistes befähigt uns, die göttliche Intention des Wortes zu erkennen und zu ergründen. Das setzt immer eine Interaktion zwischen Bibelwort und Mönch voraus. Dabei übt das ganz konkrete Leben, das ein Mönch führt, direkt Einfluss aus auf das Sich-Erschließen des Gotteswortes. Immer wieder entdecken wir während der Lesung neue Nuancen in ihren Texten, die uns unsere religiöse Existenz neu sehen lernen. In den Worten der Heiligen Schrift finden wir ein tieferes Verstehen unseres Selbst, weil wir uns selbst von Gott her sehen lernen. Die Zisterzienserväter stellen die eigenen Erfahrungen meistens mit Bildern und Begebenheiten aus der Bibel dar. Für sie bedeutet die Lectio ihre eigene Geschichte mit Gott und versetzt sie so in die Lage, Texte der Bibel als ihre eigenen auszusprechen. Denn nicht nur mit dem Verstand, sondern vor allem mit dem Herzen ist man fähig, die Tiefe der Heiligen Schrift wirklich zu verstehen.
Die Zisterzienserväter haben vor allem das Hohelied als Bild des Mönchs in seiner Beziehung zu Gott gesehen. Bernhard von Clairvaux, Gilbert von Hoyland, Wilhelm von Saint-Thierry und Johannes von Ford haben das Hohelied kommentiert, weil es ihnen ermöglichte, dem Mysterium der göttlichen Liebe näher zu kommen. Wie schon die Kirchenväter, waren sie sich dessen bewusst, dass man die geistige Realität nur in Bildern ausdrücken kann.
Wie liebte ich die Antiphon aus dem Hohenlied "Schwarz bin ich, doch schön, ihr Töchter Jerusalems" (Hld 1,5), die früher auf Latein so oft gesungen wurde! Und ich fragte mich als Novize dann immer, was genau die Schönheit hier ausmacht. Allmählich erkannte ich, dass wir Mönche alle schwarz und doch schön sind: schwarz, weil wir Sünder sind, und schön, weil wir von Gott berufen und geliebt sind. Seine Liebe macht den Mönch schön!
Heutige Christen fragen sich manchmal, wie weit das Alte Testament für sie noch Gültigkeit besitzt. Die frühen Zisterzienser haben versucht, das Alte Testament zu aktualisieren, so dass der Mönch sich darin als Angesprochener und Beteiligter erkennt. Sie versuchten, darin einen geistigen Sinn zu erkennen.
So spricht Isaak von Stella in seiner 27. Predigt über die zwei Söhne Abrahams, Ismael von der Sklavin und Isaak von der Freien. Diese beiden Söhne wohnen auch in uns, sagt Isaak von Stella, und der Sohn der Freien ist der später Geborene, denn der aus dem Geist Stammende kommt immer später. So geschieht es auch in uns: Wir gelangen von der Knechtschaft zur Freiheit.
Wir finden also bei den frühen Zisterziensern einen affektiven persönlichen Bezug zur Heiligen Schrift. Denn das neue Ideal der Gottsuche im elften und zwölften Jahrhundert war es, mit dem Wort der Heiligen Schrift ein Gott hingegebenes Leben zu gestalten. Diese Mönche haben die Bibel gelesen als Niederschlag und Ausdruck jener Liebe, die sie selbst erfasst hatte. Die Heilige Schrift war für sie das Buch ihrer eigenen Geschichte mit Gott. Es ist erstaunlich, dass am Anfang unseres Ordens keineswegs "harte Männer" gelebt haben, sondern Menschen mit einer Zartheit des Empfindens, die die Werte des Affektiven und Spielerischen nicht verkümmern ließen. Sie haben sich vom Wort Gottes direkt, ganz persönlich ansprechen lassen, und in der Terminologie von C. G. Jung ausgedrückt könnte man sagen: Diesen Männern ist die Integration von "Animus" und "Anima" auf einmalige Weise geglückt.
Auch in ihrem Gottesbild haben sie eine nur männliche Vorstellung von Gott überstiegen und gern die Schriftstelle Jesaja 66,10-13 zitiert oder paraphrasiert, eine der wenigen Stellen der Bibel, wo Gott ausdrücklich mit einer Mutter verglichen wird. Balduin von Ford betrachtet die "mütterliche Zuneigung Christi" zu uns (Balduin, Traktat 8).
Der Glaube an Jesus Christus setzt für unsere Väter das jüdische Erbe voraus und transzendiert es. Das Alte Testament ist in Christus erfüllt und muss daher von Christus her gelesen und verstanden werden. Darum ist das Alte Testament für sie immer mehr als Geschichte. Sie versuchen das Erbe Israels zu verinnerlichen und zu vergeistigen. Bei den Fluchpsalmen und Kriegsgeschichten wird der buchstäbliche Sinn überstiegen und der geistliche Sinn hervorgelockt.
Feinde, die uns bedrohen, uns Fallen stellen und uns nach dem Leben trachten, werden als die eigenen irdischen Begierden, Leidenschaften und Gelüste erkannt, die Gott ausrotten und vernichten soll. Der Psalter ist nach der Auffassung unserer Väter eine Zusammenfassung der gesamten Heiligen Schrift, auch des Neuen Testaments. So erkennen sie in den Psalmen auch die prophetischen Vorhersagen der Menschwerdung und der Erlösung.
Zum Schluss noch etwas über das Wort Gottes als "Heilungswort": Das Wort Gottes wirkt nach der Erfahrung unserer Väter heilend. Die Heilige Schrift ist ein Buch von Heilungsgeschichten. Sie berichtet von Menschen, die von Gott berührt, erschüttert, geheiligt und geheilt werden. Das bedeutet eine Absage an eine Überbetonung des Intellekts und an eine Austrocknung des Emotionalen. Das bedeutet aber auch eine Absage an erstarrte Normen und an jedes Denken in Schablonen. Viele Bibeltexte haben durch das häufige Hören den Bezug zum eigenen Leben oft fast verloren und damit auch ihre überraschende heilende Wirkung.
Vor allem durch die Lectio Divina soll der Bezug zum eigenen Leben wiederhergestellt werden. Dabei kann es hilfreich sein, sich zu fragen: Was macht dieses Wort mit mir? Welche Gefühle und Empfindungen kommen in mir hoch? Befreit es mich, erleuchtet es mein Leben, macht es mich froh? Dabei soll man das Unverstandene aushalten und nicht mit "nachgeplauderten Aussagen" abschwächen. Soll die Lectio heilend wirken, muss der Mönch sich mit seinem konkreten Leben darin aufgehoben fühlen. Das geschieht, wenn die Lectio sinnstiftend ist und in die Weite führt. Der Mönch, der sich dem Wort Gottes stellt, sieht seine Situation klarer und freier. Die alten Probleme verlieren ihren zermürbenden Charakter. Das innere Gleichgewicht ist nicht mehr so abhängig von äußeren Umständen oder dem Wohlwollen anderer. Damit verlieren sich Schuldgefühle und Ängste. Negative Spannungen, bewusst oder unbewusst, und einengende Zwänge lassen nach und lösen sich allmählich.
Die Menschen, die Jesus ihres Glaubens wegen lobte, der Hauptmann, die Kanaanäerin und die blutflüssige Frau waren von äußerster Not getrieben, im Innersten aufgewühlt. So haben sie sich auf Jesus eingelassen und ihm geglaubt. Ihr Glaube hat die Heilung bewirkt, wie Jesus ausdrücklich bestätigt.
Der Glaube an Gott heilt auch uns. Er setzt in uns ungeahnte Kräfte frei. Dabei kennt Heilung viele Facetten. So sagte eine Frau, die in Lourdes gewesen war: "Jetzt macht mir mein lahmes Bein nicht mehr viel aus; es ist gut so." Das Wort Gottes heilt uns vor allem von innen heraus, was auch körperliche Folgen haben kann.
Mögen die Schriften unserer Zisterzienserväter etwas in uns auslösen und einen Prozess in Bewegung setzen, dass wir uns auf ganz persönliche Weise auf das Abenteuer der Lectio einlassen! Im Buch der Offenbarung heißt es:
Diese Buchrolle ist wie üblich innen beschrieben, aber - und das ist ungewöhnlich - auch "auf der Rückseite". Das soll heißen, dass das Wort Gottes nicht nur e i n e Bedeutung hat. Über den buchstäblichen Sinn hinaus hat es noch eine spirituelle, tiefere Bedeutung. Diese wird uns aber nur mit der Hilfe des Heiligen Geistes gezeigt; daher der Name "geistliche" Lesung!
(Adventsvortrag 2020 von Dom Chris)